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Das kranke Gesundheitssystem

Anregung und Kritik erwünscht

Als steter Streiter gegen ein in meinen Augen ungerechtes Gesundheitssystem, dessen Gewinner die Krankenkassen und dessen bedauerliche Opfer die Patienten sind, freue ich mich über jede Form von Zustimmung, Ratschlag, Anregung oder Kritik. Ich wünsche mir nur, dass bei aller nachvollziehbarer Emotion der gute Ton in schriftlichen Beiträgen die erste Geige spielt.

Dr. Christian Nunhofer

Menschenverachtung als Prinzip

Von Kranken und Kassen Posted on 13 Okt., 2014 07:18:07

„Der verlorene Patient“ (Wenn die Krankenkasse nicht zahlt) lautete der Titel einer Fernseh-Reportage, die am 10. Oktober um 20.15 Uhr auf 3Sat ausgestrahlt wurde. Beispielhaft haben TV-Journalisten aufgezeigt, wie menschenverachtend Krankenkassen mit ihren Versicherten umgehen, wenn diese in Not geraten und in hohem Maß auf die Hilfe der großen gesetzlichen Versicherungen angewiesen sind. Mein persönliches, vorweggenommenes Fazit: Da geht es wieder einmal nur um eine Gesundheit: nämlich die der Bilanzen, aber doch nicht um die der lästigen Bittsteller-Versicherten, die impertinent-frech auf dem beharren, was ihnen schlicht und einfach zusteht. Bitte nehmen Sie sich die Zeit und gewinnen Sie selbst einen Eindruck (http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=46705)

Aber geben Sie sich bloß nicht der Illusion hin, es handle sich in den aufgezeigten Fallbeispielen um rare Ausnahmen in einer ansonsten durch und durch patientenorientierten Kassenbürokratie.

Als ehemaliger Kassenarzt weiß ich nur zu gut, dass es sich bei den geschilderten Fällen eben nicht um krasse Ausreißer handelt. Die „Nein Danke“-Mentalität der Kassen ist die Regel, wenn es darum geht, Kosten zu sparen – zum Nachteil der Patienten. Zwei von vielen Beispielen, die mir in diesem Zusammenhang spontan in Erinnerung kommen:

– Einer Patientin, die unter Depressionen litt, hatte ihre Kassensachbearbeiterin eines Freitag vormittags in barschem Tonfall mitgeteilt, dass man ab Montag kein Krankengeld wegen dieser „Drückebergerei“ mehr zahlen wolle. Entweder sie gehe arbeiten oder könne zusehen, wo sie bleibe. Resultat: Akut schwere Dekompensation mit Selbstmordgedanken, notfallmäßige Einweisung in die Psychiatrie. Auf meinen Schreikrampf am Telefon hin (inklusive des mindestens einmaligen Gebrauchs des Wortes „Staatsanwalt“) war die Krankenkassendame auf einmal ganz ruhig und schien von einer gewissen Ängstlichkeit befallen…

– Einem Patienten mit Multipler Sklerose hatte die Kasse den Elektrorollstuhl abgelehnt. Meint der Sachbearbeiter zu mir jovial am Telefon: „Wenn der mit dem Gefährt einen Unfall baut und wir den Rollstuhl genehmigt haben, dann bleiben wir auf den Unfallkosten sitzen. Stellen Sie sich vor, wenn der Tanklaster mit Benzin damals, als halb Herford abbrannte, dem Rollstuhlfahrer hätte ausweichen müssen …“ Keine Ausrede zur Leistungsverweigerung ist abstrus genug, um den Kassen nicht zu taugen.

Übrigens: Massives, wirklich enormes psychisches Leid aus reiner Profitgier der Versicherer gibt es bei Kunden aller Krankenversicherungssysteme: bei den Privatversicherern ebenso wie bei den Gesetzlichen und auch bei den Unfallversicherern, also den Berufsgenossenschaften.

Wer zieht Nutzen aus der Patientenschikane?

– Bei den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und den Berufsgenossenschaften (BG) auf jeden Fall die Arbeitgeber, denen in erster Linie an Nicht-Ausgaben, also niedrigen Beiträgen gelegen ist: Finanzieren sie doch die GKV hälftig und die BG vollständig.

– In der Privaten Krankenversicherung (PKV) die Aktionäre, sofern es sich um eine Versicherung im Rahmen einer Aktiengesellschaft handelt. Weniger Ausgaben heißt unter dem Strich einfach mehr Dividende

– Auf jeden Fall die Vorstände der Versicherer: Weniger Ausgaben = bessere Bilanzen = Erhöhung der Gehälter, Bonuszahlungen etc.

Bräuchte es nicht Gesetze, die die Patienten vor derart dreisten Übergriffen durch die Versicherungen schützen? Endlich den Straftatbestand der „seelischen Grausamkeit“ oder ähnliches? Ja, an sich schon – aber welcher Politiker wird die Initiative ergreifen? Das wäre ja Gesetzgebung gegen die Versicherer – und die Versicherer sind nicht selten künftige Arbeitgeber so manchen jetzigen Politikers (siehe Daniel Bahr), aber natürlich nur, falls er/sie nicht vorher Gesetze gegen künftige Brötchengeber unterstützt hat. Alter Grundsatz: beiße nie die Hand, die dich füttert!

Was können Sie selbst tun? Meine Empfehlung: Treten Sie der Organisation „Bürger Schulterschluss“ bei (http://www.patient-informiert-sich.de) – solidarisch, also noch, bevor Sie (hoffentlich nie) selbst betroffen sind.



Wieviel ist Kassen der Patient wert?

Von Kranken und Kassen Posted on 06 Okt., 2014 09:25:22

Ärzte
verdienen sich an Patienten dumm und dämlich – das weiß doch jedes
Kleinkind. Nein, nein, jetzt kommt keine Jammernummer über das
wenige Geld: Schließlich bin ich seit einem Jahr Ex-Kassenarzt, ich
habe keinen Grund mehr, über die Geringfügigkeit des Anteils am
schnöden Mammon zu lamentieren, das die gesetzlichen Kassen uns
Medizinern zugestehen.

Der
Rest des Textes sollte Sie dennoch brennend interessieren, denn es
wird unter anderem erklärt, warum es so schwierig ist,
Facharzttermine zu bekommen, und warum zum Beispiel Angehörige von
Demenzpatienten zweimal im Quartal stundenlang in Wartezimmern
sitzen, um dann nach zwei Minuten „Sprechstunde“ die Praxis mit
oder ohne einem Rezept zu verlassen.

Bleiben
wir bei meinem Fach und nehmen aus dem Abrechnungskatalog der
Nervenärzte/Neurologen/Psychiater die zwei teuersten und die zwei
billigsten Abrechungspositionen unter die Lupe. http://www.kbv.de/media/sp/EBM_Nervenheilkunde_20141001_OPMBE.pdf)

Zuerst
die beiden teuersten:

EBM-Nr.
16311 Langzeit-EEG, mindestens 2 Stunden Ableitedauer: 55,51 €

Diese
Nummer rechnen extrem wenige Ärzte ab – nur diejenigen aus unserer
Zunft, die den zuvor verkabelten Patienten ein Kästchen umhängen
und mit nach Hause geben, welches nachts Schlafableitungen inklusive
EEG aufzeichnet.

EBM-Nrn.
16230/21230 Zusatzpauschale kontinuierliche Mitbetreuung eines
Patienten in der häuslichen und/oder familiären Umgebung,
mindestens 2 Patientenkontakte im Quartal: 37,99 €

Diese
Abrechnungspositionen sind hochinteressant: Sie können nicht für
alle Patienten angesetzt werden, nur für diejenigen, die an einer
chronischen Erkrankung leiden und zuhause leben – vorausgesetzt, sie
tauchen zweimal im Quartal in der Praxis auf. Ein Hausbesuch ist
nicht erforderlich. Und was muss der Arzt bei solchen „Kunden“
speziell leisten? Hm … – nichts anderes als bei allen restlichen
Patienten auch: zuhören, gegebenenfalls einen Rat erteilen, ein
Medikament aufschreiben etc. Eine echte Zusatzleistung findet für
diese Zusatzpauschale jedenfalls nicht statt.

Die
Negativpositionen sind abrechnungstechnisch:

EBM-Nr.
21217: Supportive psychiatrische Behandlung … eines akut
dekompensierten Patienten: 2,84 €.

(Anmerkung:
je vollendete 10 Minunten Gesprächsdauer darf der Nervenarzt oder
Psychiater – und nur der! – allerdings die Nr. 21220 zu 13,78 € zum
Ansatz bringen).

Immerhin
ist es der Krankenkasse zusätzliche 2,84 € wert, wenn der
Psychiater Herrn Müller davon abhalten konnte, von der Brücke zu
springen.

EBM-Nrn.
16340/21340 Testverfahren bei Demenzverdacht: 1,92 €

Meiner
Meinung nach viel zu hoch bewertet! Den Test führt ja schließlich
die Arzthelferin durch, und die muss mit dem Patienten in der
Testsituation lediglich sehr einfühlsam umgehen und ist schon nach
geschätzten 20 Minuten mit den Prüfungen namens MMST oder DemTect
fertig. Unsereiner braucht dann nur noch einen Blick auf den
Auswertebogen zu werfen.

Die
Frage, die Sie sich nun stellen sollten, lautet: Warum
sind den Kassen bloß die EBM-Nummern 16230/21230 so viel wert, wenn
hinter denen keine echte zusätzliche ärztliche Leistung steckt?

Die
Antwort ist einfach: Diese Nummern dürfen nur angesetzt werden, wenn
der Patient unter bestimmten chronischen Erkrankungen leidet. Diese
Krankheit muss der Arzt in seiner EDV-Kassenabrechnung mit einer
bestimmten ICD-Codenummer verschlüsseln. Damit hat die Kasse den
Nachweis, dass ihr Herr Meier unter z.B. einer Demenz, einem
Parkinson, einer Multiplen Sklerose, einer Epilepsie, einer schweren
Depression etc. etc. leidet. Und durch diesen Nachweis bekommt die
Kasse Geld, klar! Viel mehr Geld übrigens, als sie an den Arzt
weitergibt. Dieses Geld stammt aus dem sogenannten Gesundheitsfonds
in Berlin, bei dem die Kassen zuerst einmal ihre ganzen
Beitragseinnahmen abliefern müssen, und der die Beitragseinnahmen
zwischen den Krankenkassen wieder aufteilt, je nachdem, wie schwer
krank ihre Versicherten sind. Jetzt dämmert’s, oder? Dafür, dass
der Arzt nicht vergisst, der Krankenkasse gegenüber besonders
lukrative Gesundheitsfonds-Diagnosen anzugeben, wird er mit einem
ordentlichen Trinkgeld belohnt, getarnt unter dem Begriff „ärztliche
Leistung“.

Weil
die Gebührenordnung aber für alle Krankenkassen gilt und die Zahl
der leichter und schwerer Erkrankten zwischen den einzelnen Kassen so
unterschiedlich nicht sein wird, ist das Ganze ein Nullsummenspiel –
Beitragsgeld für Bürokratie statt für echte Patientenversorgung.
Und dafür wird noch ein riesiges bürokratisches Monster – eben
jener Gesundheitsfonds in Berlin – gefüttert, pardon: finanziert.

Meine
Idee: Lasst uns doch ein paar Bundeswehrfregatten an Saudi-Arabien
verkaufen (die zugehörigen Hubschrauber sind ja eh nicht mehr
funktionsfähig) und vom erlösten Geld den Gesundheitsfonds
ausbauen! Zusätzliche Verwaltungsaufgaben finden sich bestimmt!

Also:
Was lernen Sie daraus? Nicht
das, was der Arzt an Ihnen wirklich leistet, ist den Kassen Geld
wert. Wichtig für die Kasse ist vielmehr, ob Sie an einer wertvollen
Krankheit leiden oder nicht.

Und damit der Arzt auch wirklich an seine 37,99 € kommt, wird er
Sie zweimal im Quartal in seine Sprechstunde bitten – für einmal im
Quartal gibt’s immerhin auch noch 30,29 € (EBM-Nrn. 16233/21233).

Die
Tochter sitzt mit dem dementen Vater alle sechs Wochen stundenlang im
Wartezimmer und wundert sich, warum das eigentlich sein muss?
Gretchenfrage: „Wer hat´s erfunden“? Antwort: „Die Ärzte
nicht“!

Wundern
beziehungsweise ärgern müssen sich nicht selten bedauernswerte
Zeitgenossen, die wochenlang keinen Nervenarzttermin festlegen
können, obwohl sie ihn wegen chronisch schmerzenden Fingern,
Kopfweh oder ständigen Ängsten dringend bräuchten. Tja, die
kontinuierliche Betreuung nach Nr. 16230/21230 oder 16233/21233
frisst eben doch eine Menge der Sprechzeit auf, die für
Akut-Patienten – die sowieso nicht so rentabel sind – dann halt
nicht mehr zur Verfügung steht.



Der Lohn für „gute Politik“

Von Kranken und Kassen Posted on 01 Okt., 2014 08:39:46

Der Lohn der guten Tat? Ex-Gesundheitsminister Daniel Bahr wird Vorstand der privaten Krankenversicherung des Allianz-Konzerns! Der 37-jährige frühere FDP-Politiker wechselte ebenso spektakulär und hemmungslos die Fronten wie beispielsweise CDU-Kollege Ronald Pofalla, der – Entschuldigung – seine Schäfchen bei der Bahn ins Trockene brachte.
Kaum ein Jährchen ist verstrichen, seit Daniel Bahr seine steile, politische Karriere beendet hat. Und schon bedankt sich die Versicherungswirtschaft brav beim Ex-Gesundheitsminister für glänzend geleistete Arbeit in ihrem Sinne mit einem Vorstandsposten bei der Allianz, Sparte: Private Krankenversicherung.
Hat er das verdient? Hat er Politik im Sinne der privaten Krankenversicherungen geleistet? Ja, er hat: Auch unter Daniel Bahr wurde eine Reform der Gebührenordnung für Ärzte „GOÄ“, nach der bei Privatpatienten abgerechnet wird, verhindert. Die aktuell gültige GOÄ stammt aus dem Jahr 1996. Das heißt: die Ärzte schreiben immer noch dieselben Rechnungen wie anno 1996. Bis zum Jahresende 2014 werden ca. 33 Prozent Inflation seit 1996 die Rechnungsbeträge schmälern und die Inflation der Jahre 1996 bis 2014 hat bereits alle Arztrechnungen in diesem Zeitraum im Durchschnitt um 17 Prozent entwertet. Daniel Bahr hat diesen für die Versicherungswirtschaft sehr erfreulichen Zustand während seiner Zeit als Minister erhalten – na, wenn das kein fettes Managersalär wert ist!
Selbstredend denkt kein Rechtsanwalt, Steuerberater, Notar, Architekt oder sonstiger Freiberufler daran, für seine Leistungen heute immer noch das selbe zu verlangen wie 1996. Deren Gebührenordnungen hat die Politik wiederholt angepasst – zuletzt die der Notare. Und der Aufschrei in der Bevölkerung wäre zu Recht groß, wenn die Löhne und Gehälter seit dem vorigen Jahrhundert nicht mehr gestiegen wären. Interessieren würde mich allerdings ganz speziell, wie sich denn die Bezüge der Manager und Aufsichtsräte der Krankenversicherungsbranche inclusive geldwerter Vorteile innerhalb von 18 Jahren entwickelt haben? Die werden schließlich aus dem selben Topf finanziert wie die Arztrechnungen: das Geld stammt aus den Beitragszahlungen der Versicherten. Hm, warum wohl wird’s auf diese Frage keine Antwort geben…



Der Regress macht dem Arzt Angst

Von Kranken und Kassen Posted on 18 Sep., 2014 08:34:35

Lassen
Sie mich einige Gedanken zum Thema „Anstieg der psychischen
Erkrankungen“ beitragen. Ganz unverkrampft. Als Psychiater,
Psychotherapeut und ehemaliger Kassenarzt, der seine Zulassung
zum 30.09.2013 zurückgegeben hat. Der Grund: ich akzeptiere die
elektronische Versichertenkarte nicht, weil ich intime, sensible
Daten meiner Patienten gegenüber den Kassen keinesfalls preisgeben
will. An der Tatsache, dass zum Beispiel Arbeitsverdichtung und
andere Stress-Faktoren uns das

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Leben immer schwerer machen, zweifle
ich nicht. Es gibt allerdings einen Aspekt zum Thema, der durch das
Versicherungssystem verschuldet ist, und auf den will ich hinweisen:
Ein
fiktives Beispiel: Der AOK-Versicherte – nennen wir ihn Herr Meier
– hat Depressionen, natürlich ganz zeitgeistig „burn out“
genannt. Er sucht Hilfe beim Nervenarzt Dr. Müller. Der verschreibt
ihm ein Antidepressivum, und zwar „Citalopram 20 mg“: Das ist das
billigste aller in Frage kommender Präparate, die 20 mg sind die
Mindestdosis, von der eine Wirkung erwartet werden kann.

Oft
hilft dieses Mittel, oft aber auch nicht. Regeln für den
behandelnden Arzt: erst Dosis erhöhen, dann gegebenenfalls Präparat
wechseln. Eine begleitende Psychotherapie wäre zwar schön, doch
Therapieplätze sind rar, Wartezeiten werden in Monaten gemessen. Mit
einer korrekten Medikation und stützenden Gesprächen kommen die
meisten Depressiven aus ihrem schlimmen Zustand wieder heraus.

Dr.
Müller rät Herrn Meier dennoch dringend, einen Psychotherapieplatz
zu suchen. Die Medikation mit 20 mg Citalopram behält er aus gutem
Grund unverändert bei. Herr Meier findet tatsächlich nach etlichen
Wochen einen Therapieplatz, wird Stund‘ um Stund‘ kompetent
behandelt. Bedauerlicherweise schlägt die Psychotherapie nicht an
(was immer wieder einmal vorkommt), genauso wenig wie die Medikation.

Regelmäßige
Nachfragen des Medizinischen Dienstes auf Veranlassung der AOK ändern
nichts: Herr Meier wird ja schließlich optimal behandelt!
Psychotherapie plus Medikament. Was will man machen? Zwischendurch
wird Herr Meier sogar zu einer psychosomatisch-psychotherapeutische
Reha geschickt. Sechs Wochen lang. Die AOK hat darauf gedrängt
(nicht zuletzt deshalb, weil die Deutsche Rentenversicherung die
Behandlung bezahlt). Die Intensivierung der Psychotherapie mit
Bearbeitung des burn outs bleibt ohne Erfolg. Citalopram wurde
beibehalten; Psychopharmaka interessieren die Verantwortlichen in
psychosomatisch-psychotherapeutischen Kliniken ohnehin bestenfalls am
Rande.

Nach
eineinhalb Jahren wird die Lohnfortzahlung seitens der AOK
eingestellt und Herr Meier stellt einen Rentenantrag. Der böse
Gutachter der Rentenversicherung, z.B. so einer wie ich, sieht die
Sache anders, und schreibt: „Weil die therapeutischen Maßnahmen
bei weitem nicht ausgeschöpft sind, besteht keine Veranlassung,
Herrn Meier eine verminderte Erwerbsfähigkeit zu attestieren.“

Warum?

Hatte
Herr Meier wirklich einen burn out, d.h.: wurde er krank, weil er
beruflich überfordert war? Oder hat er sich beruflich überfordert
gefühlt, weil er in eine Depression gerutscht ist? Dann wäre
nämlich die ganze Zeit psychodynamisch am Symptom „berufliche
Überforderung“ herumgedoktert worden, statt die Ursache
„Depression“ zu behandeln. Was ist Henne, was ist Ei? Das
lässt sich oft gar nicht so leicht entscheiden, wie uns die
Modediagnose „burn out“ suggeriert.

Des
Pudels wahrer Kern: Der behandelnde Facharzt Dr. Müller hat sich
nicht getraut, die Psychopharmako-Therapie den Regeln der ärztlichen
Kunst anzupassen. Immerhin sprechen ca. 30 Prozent aller Patienten
nicht auf das erste Antidepressivum an, und wenn dieses nur in der
Mindestdosis verabreicht wird, dann ist das Risiko des Scheiterns
gleich noch deutlich höher.

Doch
was hält den Arzt davon ab, eine angemessene Medikamentenbehandlung
durchzuführen? Schlicht die Angst vor einem Arzneimittelregress, den
gegebenenfalls Herrn Müllers Krankenkasse veranlasst.
Medikamentenregress heißt: Die Kasse verlangt vom Arzt Geld zurück
für Behandlungen, die sie für zu teuer hält. Diese
Regressforderungen kommen meist circa zwei Jahre nach der
durchgeführten Behandlung (gehäuft in den besinnlichen Tagen der
Vorweihnachtszeit) und liegen – oft aufsummiert für diverse
Patienten – in der Höhe von mehreren zehntausend Euro. Mit 20 mg
Citalopram jahrein-jahraus riskiert Dr. Müller hingegen keinen
Medikamentenregress.

Diese
Angst vor Rückforderungen ist in den Köpfen der niedergelassenen
Ärzte allgegenwärtig, denn jeder Dritte ist konkret davon betroffen
– und entwickelt dementsprechende Vermeidungsstrategien. Die Kosten,
die für die Kassen durch die wirkungslose medikamentöse
Sparbehandlung (nicht nur bei Depressionen) entstehen, insbesondere
die Kosten für die Lohnfortzahlungen, übersteigen die Kosten für
eine angemessene medikamentöse Therapie exorbitant. Dergleichen
Zusammenhänge kommen allerdings in den Denkschablonen der
Krankenkassenfunktionäre nicht vor.

Die
Patienten selber pochen beim Arzt so gut wie nie auf eine
Intensivierung der Psychopharmako-Therapie, weil sie in der Mehrzahl
– landläufigen Vorurteilen zustimmend – ohnehin der festen
Überzeugung sind, mit den von vielen Mythen umrankten Medikamenten
in die Abhängigkeit getrieben oder gar vergiftet zu werden. So hat
der Kollege Müller keine Probleme, seine uneffektive
Regressvermeidungsmedikation mit reinem Gewissen Monat für Monat
fortzusetzen.

Dazu
kommt, dass die gesetzlichen Krankenkassen psychisch kranke Patienten
bevorzugt in Behandlungen in psychosomatisch-psychotherapeutische
Kliniken drängen statt in psychiatrische Kliniken, weil sie im
ersten Fall die Kosten dem Rentenversicherungsträger zuschieben
können. Auch in der Reha wird meist keine effektive medikamentöse
Behandlung betrieben. Im Vordergrund steht die Psychotherapie. Eine
wirkungsvolle medikamentöse Behandlung würde in psychiatrischen
Kliniken vorgenommen – aber den Aufenthalt dort müsste dann die
„Gesundheitskasse“ selber bezahlen.

Auf
der Strecke bleibt zuletzt der Patient Meier. Statt einiger Wochen
mit konsequenter medikamentöser Therapie ist er dank
Regressvermeidungs-Behandlung monatelang krank. Wenn’s dumm geht,
landet er zuletzt bei Hartz IV. Er ist Opfer eines Systems, in dem
für die Kassen nur noch EINE Gesundheit zählt, nämlich die
der BILANZ, nicht die des Versicherten. Die meisten Ärzte
haben keinen Mumm, dagegen aufzubegehren. Es ist auch viel einfacher,
sich zu ducken und nicht gegen den Strom zu schwimmen, wenn
gleichgültiges Mitschwimmen durch die zeitgeistigen Vorurteile und
den Sprachgebrauch (Psychopharmaka sind Gift, „burn out“
statt „Depression“) so leicht gemacht wird. Wer lehnt sich
da noch aus dem Fenster, setzt sich für den Patienten ein und nimmt
das Regress-Risiko billigend in Kauf?



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