„Ein Volk von Schwerkranken“
titelt die Journalistin Cornelia Schmergal im SPIEGEL vom 15.10.2016
auf Seite 78 und beschreibt, wie Mitarbeiter von Krankenkassen
unvermittelt in Arztpraxen auftauchen und beim Doktor aufgrund von
bestimmten Diagnosen oder verordneten Medikamenten nachfragen, ob der
betreffende Patient nicht doch „ein bisschen kränker“ gewesen
sein könnte, als der Mediziner in seinem Diagnoseschlüssel
angegeben hat?

Zehn Euro Prämie sind der Judas-Lohn.
Was soll das? „Ein bisschen kränker“, einhergehend mit
einer anderen Diagnosenummer, kann für die Krankenkasse bedeuten,
dass ihr für diesen Patienten mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds
zugeteilt wird. Schlimmste Konsequenz für den ahnungslosen
Erkrankten zu einem späteren Zeitpunkt wäre, dass ihn eine private
Krankenversicherung oder eine Lebensversicherung nicht mehr
versichern will.

Unschuldig als Betrüger abgestempelt

Weil er, so der Vorwurf, „eine schwere
gesundheitliche Einschränkung nicht angegeben hat“, wie sich bei
der routinemäßigen Abfrage des Versicherers bei der Krankenkasse
herausstellte. Dass der arme Kerl fatalerweise gar nicht
mitbekam, wie „schlimm“ es um seine Gesundheit bestellt war,
spielt eine Nebenrolle. Dass ihm der Ruch des vorsätzlichen Betrugs
wegen der Angabe falscher Daten anhaftet, ebenso.

Wiederholte Besuche eines
AOK-Mitarbeiters habe ich zu meinen Kassenarztzeiten selbst noch
erleben dürfen. Der Delegierte erschien mit einer Liste, der er
entnahm, dass ich Herrn Müller (Name natürlich geändert)
„Sormodren“ verordnet habe. Das sei aber doch ein Mittel
gegen Parkinson, ich aber hätte keinen Parkinson verschlüsselt!

Frust beim gewieften Ermittler machte sich auf meine Erklärung hin
breit, dass „Sormodren“ zwar theoretisch auch gegen
Parkinson verordnet werden könne, was aber praktisch nicht mehr
geschehe. „Sormodren“ werde quasi ausschließlich gegen
übermäßiges Schwitzen verschrieben. Pech für die AOK, denn die
Diagnose Parkinson bringt ordentlich Zusatzknete aus dem
Gesundheitsfonds, „Hyperhidrosis“, wie die
Turbo-Transpiration auf gut medizinisch heißt, leider nicht.

Negativzinsen und Glückszahlen

Zum besseren Verständnis: wohin
fließen Ihre Beitragszahlungen an die Krankenkasse? Wer glaubt, das
Geld bliebe dort liegen oder würde zumindest sicher aufbewahrt, irrt
gewaltig. Alle gesetzlichen Krankenversicherungen leiten ihre
gesamten Einnahmen erst einmal an den sogenannten Gesundheitsfonds
nach Berlin weiter. Der parkt die Beitragsmilliarden bei der
Europäischen Zentralbank in Frankfurt und opfert dort ein paar
Millionen für die derzeit fälligen Negativzinsen.

Spezialisten des
Gesundheitsfonds in Berlin rechnen um, wie schwer krank der
durchschnittliche Versicherte von derzeit 117 gesetzlichen Kassen
ungefähr ist und überweisen nach diesem Kunststück Geld zurück.
Als Richtwerte für schwere Erkrankungen der Versicherten dienen jene
Diagnosenummern, die Ärzte für Patienten an Kassen weitergeben. 60
Nummern sind „Glückszahlen“, weil sie außerordentlich hohe
Rücküberweisungen aus dem Gesundheitsfonds generieren. Prämien an
die Mediziner für braves „upcoding“ würden immerhin 0,3
Prozent des Beitragssatzes ausmachen, gibt die die TK laut SPIEGEL
an.

117 Kassen und kein Unterschied

Das kommt Ihnen absurd vor? Mir nicht.
Der einzige Arbeitsbereich – pardon: Scheinarbeitsbereich, der in
Deutschland wirklich prosperiert, ist der der überflüssigen,
aufgeblähten Verwaltung. Für Außendienstmitarbeiterbesuche in
Arztpraxen zwecks „upcoding“ haben Versicherer Geld übrig,
für das sinnfreie „upcoding“ sowieso, für mehr als „6
x Physiotherapie auf neurophysiologischer Basis bei Schultersteife
li.“ pro Quartal (!) leider nicht.

Abhilfe? Wozu braucht man in
Deutschland eigentlich 117 Kassen, die sich untereinander kaum
Konkurrenz machen – und falls doch, dann mit Überflüssigem? So
ungefähr nach dem Motto „Wir zahlen Homöopathie – die
anderen bloß ein Wellness-Wochenende!“ Einigkeit herrscht
darüber, dass man keinesfalls mehr als sechs Mal Krankengymnastik im
Vierteljahr genehmigt! 117 Krankenkassenvorstände und Aufsichtsräte
wollen für mäßige Motivation üppig entlohnt werden, ein
überdimensioniertes Filialnetz verschlingt enorme Summen.

Auch ein
GKV-Spitzenverband mit bester Immobilienlage in Berlin wird,
Verzeihung, „durchgefüttert“. Seine Hauptaufgabe besteht darin,
zu verhindern, dass sich die unterschiedlichen Parteien in
wesentlichen Dingen gegenseitig auf den Schlips treten, weil der
GKV-Spitzenverband einheitliche Verweigerungs-, äh, Entschuldigung:
Leistungs-Vorgaben für Versicherte erarbeitet.

Die sinnfreie
Institution „Gesundheitsfonds“, Minuszinsen an die EZB –
enorme Kostenfaktoren, welche die Einnahmen schmälern und allein der
Pseudo-Vielfalt der 117 Kassen geschuldet sind! Teure Werbe-Kampagnen
für Print-Medien, Funk und Fernsehen werden aus Beiträgen
finanziert, Individualität und Flexibilität geheuchelt, wo
höchstens Nuancen im Service erkennbar sind, und auch die
Beitragssätze liegen weit näher beieinander als beispielsweise bei
den privaten Krankenversicherern. Der Gesundheitsfonds macht’s
möglich.

Eine einzige Institution würde reichen

Beste Lösung: Abschaffen! Alle 117
gesetzlichen Krankenkassen zu einer einzigen zusammenlegen! In
Frankreich klappt es mit einer Einheits-GKV. Warum nicht bei uns?
Gesundheitsfonds, GKV-Spitzenverband, 117 Vorstände und
wer-weiß-wie-viele Aufsichtsräte – alles überflüssig! Werbung für
die Einheitskasse? Könnte entfallen, die frei werdenden Gelder in
Oma Müllers Krankengymnastik investiert werden! Und obendrein würden
die Medien ihre Beißhemmung gegenüber mancher Kasse verlieren: Die
Angst, bei zu kritischer Berichterstattung auf Werbeeinnahmen von der
Arbeits- und Obdachlosen-Kasse (AOK) verzichten zu müssen,
hätte sich schlechthin erübrigt.

Vielleicht könnte sich der eine oder
andere Krankenkassenmitarbeiter, der im Zuge der Zusammenlegung
seinen Arbeitsplatz verliert, dafür erwärmen, wirklich für Kranke
und Alte da zu sein und auf einen Mangelberuf umzuschulen: Kranken-
oder Altenpflege. Statt professioneller Leistungsverhinderung
wirklich mal „Leistung am Menschen“! Na, wie wärs?

Allerdings ginge dann für eine stattliche Anzahl abgehalfterter Politiker ein lukrativer Ersatzjob
verloren. So macht es sich beispielsweise der ehemalige saarländische
Gesundheitsminister Andreas Storm heute im Vorstand der DAK bequem;
natürlich nicht für Gottes Lohn. Demnach würde die Regierung im
Fall der Fälle wohl doch in seltener Eintracht gegen eine
Einheits-GKV stimmen, denke ich. Man kann in diesen stürmischen
Zeiten ja nicht mehr alle überflüssigen Volksvertreter nach Brüssel
schicken, oder?