Telemedizinverbot:
Der SPIEGEL schwadroniert wie gewohnt, wenn es um Gesundheitspolitik
geht. „Kontaktverbot im Web“ titelt das Magazin vom
25.06.2016 auf Seite 73. Online einen Arzt zu befragen sei in
Deutschland leider verboten. Eine Regelung aus dem Deutschen Reich
von 1927 schließe Fernbehandlungen aus, weiß der Autor Martin U.
Müller, weshalb eine Online-Praxis in England nun in die Bresche
springe und sich als Helfer in der Not in modernen Zeiten anbiete.
Für neun bis 29 Euro pro Konsultation, gegebenenfalls auch mit
zugesandtem Rezept. „Bei Bagatellen wie Mückenstichen oder simplen Durchfall muss der Patient nicht immer in eine
Praxis“, zitiert Müller einen Arzt. Da hat er recht. Aber
braucht es das überhaupt? Oder tut’s eventuell nicht bei zwei
Insektenstichen oder einem besonders „flotten Otto“ zuerst auch
einmal der Rat des Apothekers um die Ecke?

Preiswert oder einfach nur billig?


Außerdem:
neun bis 29 Euro pro Konsultation! Mit knapp 30 Euro (eher etwas
weniger) muss ein bundesdeutscher Orthopäde ein Vierteljahr lang pro
Kassenpatienten auskommen. Egal, wie oft der von Schmerzen gepeinigte
Kunde wegen „Rücken“ schon wieder auf der Matte steht. Ist Telemedizin also wirklich preiswert? Oder einfach nur billig?

Herrn
Müller freilich ficht das nicht an. Er lässt in bewährter Weise
eine Frau Mauersberg von der Verbraucherzentrale zu Wort kommen:
„Letztlich ist es doch ein Abrechnungsproblem. Patienten, die
der Arzt einfach nur deshalb einmal im Quartal einbestellt, um sein
Praxisbudget zu sichern, würden wegfallen.“ Aha, wenn das
eigene Kind einen Wespenstich erlitt und deswegen bereits der
Telearzt in Great Britain in Anspruch genommen wurde, verzichtet man
selbstverständlich auf weitere Quartalsbesuche beim Hausarzt, sollte der Nachwuchs plötzlich eine richtige Grippe bekommen – oder
wie?

Was die Verbraucherzentralen hartnäckig ignorieren und Herr
Müller schlicht nicht zu wissen scheint ist, dass die ambulante
Medizin rationiert wurde wie Butter und Brot nach dem Krieg. Die
Sanktionen treffen allerdings nicht den Patienten, sondern
raffinierterweise seinen Arzt. Der Ausdruck für diese Gemeinheit
lautet irreführend und verharmlosend „Budget“. Mehr als
einen bestimmten Betrag pro Quartal gibt es für den Onkel Doktor
nicht.

Was, wenn der Insel-Doc irrt?

Frau Mauersberg scheint von einer in schwindelerregender Höhe
liegenden Budget-Messlatte zu fantasieren. Von üppigen Geldbündeln,
die die Praxen ohnehin nicht aufbrauchen können und daher froh sind
um jeden Patienten, der kommt. Denkste! Im Durchschnitt wird in jeder
deutschen Arztpraxis pro Quartal um 15 Prozent mehr gearbeitet, als
die Kassen vergüten. Das nennt sich „Budgetüberschreitung“
– von wegen „Budget sichern!“

Mir können Sie ruhig
glauben, dass es sich so verhält, immerhin bin ich seit fast drei
Jahren Ex-Kassenarzt. Allerdings verstehe ich immer noch nicht, warum die
Verbraucherzentralen ständig (!) Menschen eklatant
desinformieren. Wenn das mal kein Thema für eine SPIEGEL-Recherche
wäre …


Eine
Frage beantwortet uns Herr Müller natürlich nicht, die hat er gewiss nur vergessen: Wer haftet, wenn die Fernbehandlung falsch ist,
eine wesentliche Diagnose übersehen wird? Wie macht der Patient
hierzulande Schadenersatz gegen den Doc auf der Insel geltend? Hm…
Tja, hingeschrieben ist schnell was, nicht wahr? Nachdenken und gründlich
recherchieren erfordert viel Zeit. Absoluten Durchblick bei derart
komplexer Materie kann man sowieso nicht als Selbstverständichkeit voraussetzen; schließlich
liegen noch andere Geschichten auf dem Schreibtisch. Wie heißt ein
altes, vor allem bei Boulevard-Journalisten beliebtes Sprichwort? Ach ja: „Gründliche Recherche lässt die schönste Story platzen“.

Auch Google interessiert sich für den Rhythmus


Ein
bekannter – wenn nicht sogar der bekannteste deutsche
Sozialpsychologen, der im SPIEGEL immer wieder zu Wort kommt,
ist der Flensburger Professor Harald Welzer. Im Heft 17/2016 veröffentlichte er einen Essay mit dem Titel „Das Leben ist analog“, um in sein neues
Buch „Die smarte Diktatur“ über unsere schleichende
Versklavung durch die digitalen Medien einzuführen. Eine Lektüre,
die auch im Heft vom 25.06. noch auf Platz 7 der Sachbuch-Bestseller
rangiert.


Wer
dieses literarische „must-have“ auf keinen Fall gelesen
haben kann, ist Martin U. Müller. Fröhlich naiv palavernd gibt er
kund: „Dank Smartphone wissen Patienten heute bisweilen mehr
über ihren Gesundheitszustand als nach der schnellen Untersuchung in
einer schlecht ausgestatteten Praxis“. Man könne, verrät er, ein iPhone etwa
mit einer EKG-Funktion ausstatten und eine App den Herzrhythmus analysieren
lassen. Vorhofflimmern als akutes Risikofaktor für einen
Schlaganfall würde die Smartphone-Kamera sicher erkennen.

Toll. Der Stolperstein: Nicht nur der Patient weiß damit mehr über
seinen Gesundheitszustand, sondern auch Google und deshalb zeitnah
auch jeder, der bereit ist, den Datenhändlern, jenen Piraten der
Neuzeit, genug Geld für sensible Infos wie diese zu bezahlen. Alles
Quatsch, denken Sie? Und fragen sich, wem Ihr Rhythmus so am Herz
liegen sollte?

Ein herzliches Veto

Hmmm … Versicherungen? Nein, nein – denen bestimmt
nicht, die sind ja auch sooo arm geworden, die können sich das doch
gar nicht mehr leisten. Aber was ist, wenn Sie sich selbständig
machen wollen, eine Lebensversicherung mit anhängender
Berufsunfähigkeitsversicherung brauchen, Ihr angefragter Versicherer
aber zufällig schon darüber informiert ist, dass Sie im wahrsten
Sinne des Wortes etwas auf dem Herzen haben? Wegen der famosen App,
die Ihre Pumpe überwacht, wird Ihnen der Vertrag verweigert!

So
schnell können sich Zukunftspläne ändern. Übrigens auch für
Leute, die mit langfristigen Jobs als Angestellte liebäugeln. Weiß
der Arbeitgeber konkret Bescheid, wo den „Neuen“ der Schuh
drückt, kann es schwierig werden mit unbefristeten Verträgen. Sogar
bei SPIEGEL-Redakteuren, gell, Herr Müller?