Liebe niederlassungswillige Kolleginnen und Kollegen! Mir ist klar, dass ich mit dem folgenden Aufsatz etliche bereits etablierte Herrschaften verärgern werde. Jene niedergelassenen
Kassenärzte nämlich, die nicht mehr allzu weit vom Ruhestand entfernt sind und sehnlich darauf hoffen, ihre Praxis an Sie weiterverkaufen zu können. Der Verkaufserlös aus einer Praxis wird bei niedergelassenen Ärzten
als Teil der Altersversorgung einkalkuliert – da sind Mediziner nicht anders als andere Selbständige wie Handwerker, Rechtsanwälte oder Steuerberater. Und die Standespolitiker der Kassenärztlichen Vereinigungen („KV“)
dürften ebenfalls „not amused“ sein, denn ohne neu niedergelassene Kassensklaven würden sie überflüssig werden und mit ihnen der ganze monströse KV-Verwaltungsorganismus.
„Ärztebashing“ zurzeit „in“
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat vor zirka einem Jahr eine Werbekampagne für niedergelassene Ärzte gestartet. Mit Fotos von Praxisinhabern und dem in großen Lettern
prangenden Spruch: „Ich arbeite für Ihr Leben gern!“ Ob dadurch die Wertschätzung der Ärzteschaft in der Bevölkerung gestiegen ist, sei dahingestellt. Es wird ja gerne über „die Ärzte“ gelästert.
Privat und in den Medien. „Ärztebashing“ ist eine Erscheinung des deutschen (ja: speziell des deutschen!) Zeitgeistes. Fragen Sie mal einen der zahlreichen bundesrepublikanischen Mediziner, der in die Schweiz ausgewandert
ist, um wie viel höher er die Lebensqualität dort schon allein deswegen empfindet, weil es noch einen respektvollen Umgang zwischen Ärzten und Patienten gibt und Verständnis dafür herrscht, dass der Doktor mehr als ein
schnöder 08/15-Dienstleister ist. Im eidgenössischen Hort der Seligen gibt’s keinen dringend angeforderten Hausbesuch nachts um halb drei wegen einer Zecke in der Wade, in dessen Verlauf sich herausstellt, dass der Patient
alkoholisiert und die Zecke nicht mehr als ein Schlammspritzer ist. „Macht ja nichts“, denkt sich hingegen deutscher Otto-Normalpatient, „geht doch auf Kasse“!
So manchem Dumm-Dreisten steht allerdings auch in Deutschland die Mehrheit der dankbaren Kassenpatienten gegenüber, die sich über den engagierten Einsatz ihrer Ärzte freuen.
Die Gründe, weswegen Sie dennoch die Finger von einer Kassenarztpraxis lassen sollten, sind tatsächlich wirtschaftliche:
Ist Ihnen klar, dass Sie als Kassenarzt auf der Ausgabenseite ein richtiger Unternehmer sind? Sie zahlen Gehälter für Ihre Mitarbeiter, Miete, die Putzfrau, Investitions- und
Wartungskosten in Ihre Praxisgeräte und die EDV, spezifische Selbstständigen-Versicherungen wie etwa die Haftpflicht, Berufsgenossenschaft für Ihre Helferinnen, Rechtsschutz, Praxisausfallversicherung, Tagegeldversicherung,
Berufsunfähigkeitsversicherung etc. etc.
Bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlte Fortbildungen während der Arbeitszeit? Das gibt’s bei Selbständigen nicht!
Festes Gehalt, variable Abzüge
Ist Ihnen außerdem klar, dass Sie als Kassenarzt auf der Einnahmenseite für die Kassenpatienten de facto wie ein Angestellter behandelt werden? Sie erhalten allmonatlich eine
Abschlagszahlung von „Ihrer“ Kassenärztlichen Vereinigung und vierteljährlich einen zusätzlichen Betrag, der nach Quartalsabrechnung das ausgleicht, was Ihnen durch die Abschlagszahlungen zu wenig überwiesen
wurde. Die Gesamtsumme, die Sie im Quartal verdienen dürfen, steht von vornherein fest – so wie die Summe dreier Monatsgehälter für einen Angestellten. Bei Ihnen allerdings ist noch eine Korrektur nach unten möglich,
wenn die KV aus wie üblich nicht nachvollziehbaren Gründen die Honorierung zwischen den Berufsgruppen anders verteilt – und Sie bei denjenigen sind, für die „anders“ = „weniger“ gilt.
In diesem Modell als Kassenarzt übernehmen Sie für die Kassen das Morbiditätsrisiko, also das Risiko für die Krankheitskosten! Aber gibt es nicht mehr Geld, wenn mehr Menschen
krank sind, zum Beispiel wegen einer Grippewelle, werden Sie sich womöglich denken? Nein! Weil zwischen Kassen und Kassenärzten gilt, dass die Kassen ihre Honorarsummen an die weiter verteilende KV „mit befreiender
Wirkung“ zahlen, d.h.: mehr Arbeitsaufwand gibt eben nicht mehr Geld.
Das ist so, wie wenn Sie mit einem Handwerker einen Festbetrag für eine bestimmte Leistung aushandeln. Was immer auch beim Auftrag als nicht vorhersehbares Problem dazukommt
– Festbetrag bedeutet: Risiko und damit Kosten zu Lasten des Handwerkers. Wenn sich Handwerker auf Festbeträge einlassen, dann mit einem solch hohen Kostenvoranschlagsbetrag, dass sie trotz aller Unwägbarkeiten sicher nicht
draufzahlen. Und hier hinkt gleichzeitig der Vergleich: Die niedergelassene Ärzteschaft erhält für Ihren „Festbetrag“ so wenig, dass sie stets etwa 15 Prozent mehr Leistung erbringt, als sie von den gesetzlichen
Krankenkassen bezahlt bekommt. Arbeit für „umme“ ist deutscher Kassenarztalltag. Und das natürlich bei unverändert hundertprozentigem straf- und zivilrechtlichem Haftungsrisiko.
Haftungsrisiko mit Risiken
Apropos „Haftungsrisiko“. Das haben Sie auch noch sozialrechtlich, und zwar den Krankenkassen gegenüber. Wenn die Kasse XY meint, Ihre Verordnungen seien zu teuer,
dann fordert sie von Ihnen Geld zurück. Das nennt sich „Arzneimittelregress“. Denken Sie bloß nicht, solche Regresse seine rare Ausnahmen! Etwa jeder dritte Kassenarzt ist betroffen. Die Euro-Beträge, um die es
geht, bewegen sich oft genug im Zehntausenderbereich. Und selbst wenn es Ihnen gelingt, vor dem Sozialgericht den Regress abzuwehren oder zu mindern: Das Verfahren allein kostet Sie eine Menge Zeit und Nerven – es ist die
Hölle! Wiegen Sie sich bloß nicht in dem falschen Glauben, Regresse beträfen nur Ärzte, die Luxusmedizin betrieben. Luxusmedizin ist nämlich für die Kassen alles, was nach deren Meinung mehr ist als ausreichende (!)
Behandlung – und „ausreichend“ heißt: Note 4. Mit dem Ehrgeiz, Ihre Kassenpatienten gut (= Note 2) behandeln zu wollen, gehen Sie in der Kassenmedizin zugrunde.
Resultat: Auf der Einnahmenseite ist ein Kassenarzt ein Angestellter, der andauernd unbezahlte Überstunden leistet.
Auf der Ausgabenseite allerdings ist er richtig selbständig mit dem vollen unternehmerischen Risiko bis hin bis zu dem irrsinnigen Faktum, für die Arzneimittelkosten auf Ihren
Rezepten (nebenbei: auch für Physiotherapie etc.) finanziell einstehen zu müssen.
Versuchen Sie einmal, irgendeinen anderen Berufstätigen, der die Möglichkeit hat, sich selbständig zu machen, zu überreden, unter solchen Bedingungen einen eigenen Betrieb
zu eröffnen. Der an die Stirn tippende Finger ist Ihnen als gestische Antwort sicher.
Wenn Sie sich niederlassen wollen, sollten Sie sich erkundigen, wie es sich in der Realität lebt. Bitten Sie einen selbständigen Kollegen Ihrer Zunft um eine ehrliche Auskunft.
Der Befragte sollte allerdings mindestens schon acht Jahre niedergelassen sein, damit er über einschlägige Erfahrungen mit dem Fiskus nach dem Ende der ersten Jahre mit den Abschreibungen in die Anlaufinvestitionen bei Niederlassung
verfügt.
Er sollte so weit von Ihrem avisierten Praxissitz entfernt sein, dass er Sie – falls er jünger ist – nicht als möglichen Konkurrenten sieht, oder – falls er älter ist – nicht
als mögliches Opfer, dem er seinen Kassenarztsitz verkaufen kann.
Auf keinen Fall trauen sollten Sie der Kassenärztlichen Vereinigung beziehungsweise Berufsverbänden niedergelassener Ärzte. Denn beide sind für den Erhalt der eigenen Existenz
darauf angewiesen, dass es weitere Opfer gibt, die in die Kassenarzt-Niederlassungsfalle tappen.
Lieber einsam als gemeinsam
Falls Sie sich dennoch entschließen, Kassenarzt zu werden: Praktizieren Sie in einer Einzelpraxis! In einer Gemeinschaftspraxis sind Sie unwiderruflich Gefangener des Systems.
Ein Ausstieg in Richtung Privatpraxis oder die Flucht ins Ausland ist erfahrungsgemäß durch die Partnerschaftsverträge unmöglich oder geht mit so vielen rechtlichen und zwischenmenschlichen Blessuren einher, dass es einfacher
ist, im maroden deutschen Kassenarztsystem zu verbleiben. Irgend ein Kollege, der aus einer Gemeinschaftspraxis ausgestiegen ist, wird Ihnen bestätigen, dass die „Scheidungsrate“ der Praxispartner noch höher als
die in reellen Ehen ist.
Wenn Sie sich niederlassen möchten, dann versuchen Sie folgende Strategie:
Erwerben Sie Fähigkeiten und Zusatzqualifikationen, über die die meisten Ihrer Fachkollegen nicht verfügen, die aber gebraucht werden.
Dann lassen Sie sich als Privatarzt in Einzelpraxis in einer Gegend nieder, in der Ihre Fachrichtung unterrepräsentiert ist. Dass solche Standorte immer mehr werden, ist eigentlich
nicht verwunderlich!