Lassen
Sie mich einige Gedanken zum Thema „Anstieg der psychischen
Erkrankungen“ beitragen. Ganz unverkrampft. Als Psychiater,
Psychotherapeut und ehemaliger Kassenarzt, der seine Zulassung
zum 30.09.2013 zurückgegeben hat. Der Grund: ich akzeptiere die
elektronische Versichertenkarte nicht, weil ich intime, sensible
Daten meiner Patienten gegenüber den Kassen keinesfalls preisgeben
will. An der Tatsache, dass zum Beispiel Arbeitsverdichtung und
andere Stress-Faktoren uns das
Leben immer schwerer machen, zweifle
ich nicht. Es gibt allerdings einen Aspekt zum Thema, der durch das
Versicherungssystem verschuldet ist, und auf den will ich hinweisen:
Ein
fiktives Beispiel: Der AOK-Versicherte – nennen wir ihn Herr Meier
– hat Depressionen, natürlich ganz zeitgeistig „burn out“
genannt. Er sucht Hilfe beim Nervenarzt Dr. Müller. Der verschreibt
ihm ein Antidepressivum, und zwar „Citalopram 20 mg“: Das ist das
billigste aller in Frage kommender Präparate, die 20 mg sind die
Mindestdosis, von der eine Wirkung erwartet werden kann.
Oft
hilft dieses Mittel, oft aber auch nicht. Regeln für den
behandelnden Arzt: erst Dosis erhöhen, dann gegebenenfalls Präparat
wechseln. Eine begleitende Psychotherapie wäre zwar schön, doch
Therapieplätze sind rar, Wartezeiten werden in Monaten gemessen. Mit
einer korrekten Medikation und stützenden Gesprächen kommen die
meisten Depressiven aus ihrem schlimmen Zustand wieder heraus.
Dr.
Müller rät Herrn Meier dennoch dringend, einen Psychotherapieplatz
zu suchen. Die Medikation mit 20 mg Citalopram behält er aus gutem
Grund unverändert bei. Herr Meier findet tatsächlich nach etlichen
Wochen einen Therapieplatz, wird Stund‘ um Stund‘ kompetent
behandelt. Bedauerlicherweise schlägt die Psychotherapie nicht an
(was immer wieder einmal vorkommt), genauso wenig wie die Medikation.
Regelmäßige
Nachfragen des Medizinischen Dienstes auf Veranlassung der AOK ändern
nichts: Herr Meier wird ja schließlich optimal behandelt!
Psychotherapie plus Medikament. Was will man machen? Zwischendurch
wird Herr Meier sogar zu einer psychosomatisch-psychotherapeutische
Reha geschickt. Sechs Wochen lang. Die AOK hat darauf gedrängt
(nicht zuletzt deshalb, weil die Deutsche Rentenversicherung die
Behandlung bezahlt). Die Intensivierung der Psychotherapie mit
Bearbeitung des burn outs bleibt ohne Erfolg. Citalopram wurde
beibehalten; Psychopharmaka interessieren die Verantwortlichen in
psychosomatisch-psychotherapeutischen Kliniken ohnehin bestenfalls am
Rande.
Nach
eineinhalb Jahren wird die Lohnfortzahlung seitens der AOK
eingestellt und Herr Meier stellt einen Rentenantrag. Der böse
Gutachter der Rentenversicherung, z.B. so einer wie ich, sieht die
Sache anders, und schreibt: „Weil die therapeutischen Maßnahmen
bei weitem nicht ausgeschöpft sind, besteht keine Veranlassung,
Herrn Meier eine verminderte Erwerbsfähigkeit zu attestieren.“
Warum?
Hatte
Herr Meier wirklich einen burn out, d.h.: wurde er krank, weil er
beruflich überfordert war? Oder hat er sich beruflich überfordert
gefühlt, weil er in eine Depression gerutscht ist? Dann wäre
nämlich die ganze Zeit psychodynamisch am Symptom „berufliche
Überforderung“ herumgedoktert worden, statt die Ursache
„Depression“ zu behandeln. Was ist Henne, was ist Ei? Das
lässt sich oft gar nicht so leicht entscheiden, wie uns die
Modediagnose „burn out“ suggeriert.
Des
Pudels wahrer Kern: Der behandelnde Facharzt Dr. Müller hat sich
nicht getraut, die Psychopharmako-Therapie den Regeln der ärztlichen
Kunst anzupassen. Immerhin sprechen ca. 30 Prozent aller Patienten
nicht auf das erste Antidepressivum an, und wenn dieses nur in der
Mindestdosis verabreicht wird, dann ist das Risiko des Scheiterns
gleich noch deutlich höher.
Doch
was hält den Arzt davon ab, eine angemessene Medikamentenbehandlung
durchzuführen? Schlicht die Angst vor einem Arzneimittelregress, den
gegebenenfalls Herrn Müllers Krankenkasse veranlasst.
Medikamentenregress heißt: Die Kasse verlangt vom Arzt Geld zurück
für Behandlungen, die sie für zu teuer hält. Diese
Regressforderungen kommen meist circa zwei Jahre nach der
durchgeführten Behandlung (gehäuft in den besinnlichen Tagen der
Vorweihnachtszeit) und liegen – oft aufsummiert für diverse
Patienten – in der Höhe von mehreren zehntausend Euro. Mit 20 mg
Citalopram jahrein-jahraus riskiert Dr. Müller hingegen keinen
Medikamentenregress.
Diese
Angst vor Rückforderungen ist in den Köpfen der niedergelassenen
Ärzte allgegenwärtig, denn jeder Dritte ist konkret davon betroffen
– und entwickelt dementsprechende Vermeidungsstrategien. Die Kosten,
die für die Kassen durch die wirkungslose medikamentöse
Sparbehandlung (nicht nur bei Depressionen) entstehen, insbesondere
die Kosten für die Lohnfortzahlungen, übersteigen die Kosten für
eine angemessene medikamentöse Therapie exorbitant. Dergleichen
Zusammenhänge kommen allerdings in den Denkschablonen der
Krankenkassenfunktionäre nicht vor.
Die
Patienten selber pochen beim Arzt so gut wie nie auf eine
Intensivierung der Psychopharmako-Therapie, weil sie in der Mehrzahl
– landläufigen Vorurteilen zustimmend – ohnehin der festen
Überzeugung sind, mit den von vielen Mythen umrankten Medikamenten
in die Abhängigkeit getrieben oder gar vergiftet zu werden. So hat
der Kollege Müller keine Probleme, seine uneffektive
Regressvermeidungsmedikation mit reinem Gewissen Monat für Monat
fortzusetzen.
Dazu
kommt, dass die gesetzlichen Krankenkassen psychisch kranke Patienten
bevorzugt in Behandlungen in psychosomatisch-psychotherapeutische
Kliniken drängen statt in psychiatrische Kliniken, weil sie im
ersten Fall die Kosten dem Rentenversicherungsträger zuschieben
können. Auch in der Reha wird meist keine effektive medikamentöse
Behandlung betrieben. Im Vordergrund steht die Psychotherapie. Eine
wirkungsvolle medikamentöse Behandlung würde in psychiatrischen
Kliniken vorgenommen – aber den Aufenthalt dort müsste dann die
„Gesundheitskasse“ selber bezahlen.
Auf
der Strecke bleibt zuletzt der Patient Meier. Statt einiger Wochen
mit konsequenter medikamentöser Therapie ist er dank
Regressvermeidungs-Behandlung monatelang krank. Wenn’s dumm geht,
landet er zuletzt bei Hartz IV. Er ist Opfer eines Systems, in dem
für die Kassen nur noch EINE Gesundheit zählt, nämlich die
der BILANZ, nicht die des Versicherten. Die meisten Ärzte
haben keinen Mumm, dagegen aufzubegehren. Es ist auch viel einfacher,
sich zu ducken und nicht gegen den Strom zu schwimmen, wenn
gleichgültiges Mitschwimmen durch die zeitgeistigen Vorurteile und
den Sprachgebrauch (Psychopharmaka sind Gift, „burn out“
statt „Depression“) so leicht gemacht wird. Wer lehnt sich
da noch aus dem Fenster, setzt sich für den Patienten ein und nimmt
das Regress-Risiko billigend in Kauf?